Julius Hübner                            1875

1806 – 1882

 

Frühgesang

 

Auf meinem Lager schlaflos, ohne Ruh’,

Lieg ich, wenn kaum im ersten Morgenlichte

Mein Zimmer rings erdämmert dem Gesichte,

Dann hör’ ich dir, du kleiner Vogel, zu.

 

Der erste Strahl der Poesie bist du!

Mit einem hellen, frohen Taggedichte

Singst du dir deines Käfigs Bann zu nichte;

Wach’ auf, mein Herz, daß ich ein Gleichen thu’!

 

Beflügle meinen Geist, du ew’ge Macht,

Daß ich mich schwinge in des Aethers Räume

Hoch über dieser Erde Kerkerhaft.

 

Daß ich von Himmelsseligkeiten träume,

Getragen von der ew’gen Liebe Kraft,

Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht.

 

 

 

Veilchenstrauß

 

Ein zartes Sträußchen hast du mir gegeben

Vom Veilchenstrauß, der deinen Busen schmückte,

Der kindlich schmeichelnd an dein Herz sich drückte

Und still belauschte deines Athems Weben.

 

Nun gab sein Duft mir ein geheimes Leben,

Das tief mein armes, müdes Herz erquickte,

In eine bess’re Welt ihn zu erheben.

 

Nachts ist dein Sträußchen neben mir gestanden

Und Veilchenduft durchwehte meine Träume

Von ew’gem Lenz, frei von des Winters Banden.

 

Selig beschwingt durchflog ich Himmelsräume

Und heil’ge Engel waren mir Genossen - -

Hätt’ ich mein Aug’ auf immer doch geschlossen!

 

 

 

Abend

 

Noch glüh’n die Wolken, wo die Sonne sank,

Die letzten Abendglocken sind verklungen

Und tiefer sinken schon die Dämmerungen,

Die Amsel flötet ihren Nachtgesang.

 

Auf meinen späten, stillen Abendgang

Hat mich ein Geist des Friedens tief durchdrungen

Und jeden eitlen Wunsch in Schlaf gesungen,

Zum Himmel auf steigt nur Gebet und Dank.

 

Durch alle Welten geht ein heilig Schweigen,

Das Unaussprechliche steht sichtbar da

Und Gottgewißheit wird der Seele eigen.

 

Die ew’ge Liebe hält mich sanft umfangen

Und alles Habe ist mir innig nah’,

Nichts will mein Herz hienieden noch verlangen.

 

 

 

Schöpferische Schmerzen

 

Wie in kranker Muschel eingeschlossen

Reift der Perle Irisfarbenschein,

So aus meiner bittern Herzenspein

Zarte Lieder tiefgeheim entsprossen.

 

Wie aus goldnen Fäden unverdrossen

Webt die Raupe ihren Leichenschrein,

So in meines Herzens Kämmerlein

Ruht mein Leid, von Liedern sanft umschlossen.

 

Wie der Diamant im dunkeln Schacht,

Wächst aus meiner Qualen tiefer Nacht

Der Entsagung Kleinod mir im Herzen.

 

Wie der Phönix rein aus Feuersgluthen,

Aufersteht mein Geist aus Thränenfluten –

Seid gesegnet, schöpferische Schmerzen!